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Das Dorf Striese in den 4 Jahreszeiten

Auszüge aus der Chronik

                             "Es war" - Ein Dorf und seine Menschen zwischen 1931 und 1945"

von Bodo Zapora

                                                      Frühling

Rauschend und gurgelnd eilt die Bache in Richtung Sponsberg, als freue sie sich, das letzte Schmelzwasser davontragen zu können. Das Hochwasser ist abgezogen. Wir können am quatschnassen Ufer stehen und in die noch braunen Wellen und Strudel schauen, auf denen lustig kleine Holzstückchen flink talabwärts schaukeln oder, wie nach Hilfe suchend, sich wild drehend in einem Strudel versinken.

Frühlingsahnen liegt in der Luft, die noch etwas rauh durch die dürren Erlenbüsche und Äste der Uferbäume weht. Ab und zu bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolken und beleuchtet Gegenstände oder Häuser, die uns fast fremd anmuten, weil wir sie die längste Zeit des Jahres wegen des an Bäumen und Sträuchern hängenden Laubes so nicht sehen können. Werden wir selbst von einem Sonnenstrahl getroffen, spüren wir seine kraftvolle Wärme.

In der schattigen Lindenallee ist der dicke "Gletscher" des während der langen Wintermonate Schicht um Schicht aufgebauten Eises noch nicht vollends abgetaut; es kann noch eine Weile dauern, bevor die letzten Reste abgeschmolzen sind und der Weg zum Dominium trocken wird.

Wir sind in der Zeit vor dem Krieg, da die Bauern noch nicht mit über hundert PS-Diesel, sondern ein- oder zweispännig auf hölzernen Wagen durch düstere Hohlwege und an im Nebel gespenstisch aussehenden Kopfweiden vorbei auf ihre Felder fahren. Die Frühjahrsbestellung hat begonnen. Von den Feldern weht ein würzig belebender Duft nach frisch bearbeiteter Erde ins Dorf.

Zartes Grün sprießt allerorten, Sträucher und Bäume bekommen einen hellgrünen Schimmer und braune Knospen. An den Kastanien platzen die prallen, braunglänzenden dicken Triebe und verwandeln sich in wunderschöne weiß und rosa leuchtende, auf den Zweigen stehende Blütenkerzen.

Die Bauern haben das Sommergetreide und Rüben gesät und legen die Kartoffeln. In wenigen Wochen verändert sich das ganze Land. Das Erwachen der Natur wirkt sich auch auf die Menschen aus. Insbesondere die Kinder geben ihrer Lebensfreude Ausdruck durch singen, lachen, springen: grad' wie die umhertobenden Osterlämmer.

Der Maibaum wird aufgerichtet, und nicht nur die Jugend tanzt in den Mai. Jeden Morgen wird das Zwitschern der Vögel um viele Stimmen reicher und dauert etwas länger an, bis die ersten Sänger ihre Partner gefunden haben und mit dem Nestbau beginnen. Störche und Schwalben sind heimgekehrt, um für Nachwuchs zu sorgen, und fast jedes Haus hat einem Giebel oder einem dicht neben dem Haus stehenden Baum einen Starkasten, vor dessen Flugloch am Abend auf der Sitzstange die Stare ihre Nachtmelodie pfeifen.

Die Obstbäume an den Feldwegen und Chausseen stehen in voller Blüte und leuchten vor den mit allen Grüntönen durchsetzten Wiesen und Feldern weiß und zartrosa wie Perlenschnüre.

 

                                                       Sommer

 Nicht astrononischer Jahreszeitenbeginn und -ende sind für die Strieser und ihre Jahreszeitenbestimmung ausschlaggebend, sondern die meteorologischen Bedingungen. Sobald die Kinder mehrere Stunden am Tag barfuß gehen können oder sogar das Verlangen haben, im Ochsenteich baden zu gehen, ist Sommer!

Mitunter noch blühende Bäume oder auch sporadische geringe Nachtfröste halten nicht davon ab, nach genügend Stunden Sonneneinstrahlung im Festlandklima den Sommer lange vor dem 21.Juni zu fühlen und zu erleben.

Selbst wenn am frühen Morgen noch reifähnlicher Tau an den Gräsern hängt und jeder Frühaufsteher leicht fröstelt, werden am Nachmittag oft Strümpfe und Schuhe ausgezogen und die Fußsohlen langsam an den noch unangenehm drückenden Boden und das sanfte frische Gras gewöhnt; auch das Wasser der Bache wird schnell probiert, bis seine Kälte stechende Schmerzen in den Fußgelenken hervorruft. Barfußlaufen ist in jedem Frühsommer neu, ein geradezu wunderbares Erlebnis.

Die wenigen Tage der Ruhepause zwischen der letzten Frühjahrsbestellung und dem ersten Grasschnitt für das Juniheu sind vorüber, es wird bald ganztags barfuß gelaufen und die Mutigen wagen sich schon Mitte Mai kurz ins Wasser, um sich abzukühlen.

Noch ehe die Sommerferien beginnen, haben die meisten der blonden Kinder ihren ersten schweren Sonnenbrand. Keiner findet es anstößig, daß die Jungen lediglich mit einer Turnhose bekleidet in die Schule gehen. Glücklich, wer in der Schulklasse in der letzten Bankreihe sitzt: nur der ist sicher, daß ihm kein Hintermann die aus den aufgeplatzten Sonnenbrandblasen herunterhängende Haut genüßlich abzieht. Die Lehrkräfte können schließlich nicht auf alle Bälger gleichzeitig achten. Ist die Hitze unerträglich, dann gibt es auch schon mal vor Ferienbeginn schulfreie Tage. Die Hausaufgaben (Schularbeiten genannt) werden auf ein Minimum reduziert. Deshalb ist täglich bald nach dem Mittagessen die Dorfjugend fast vollzählig am und im Ochsenteich zum Bade versammelt.

Werden die Fingerkuppen schrumpelig und die Lippen blau ob des zu langen Aufenthalts im kalten Wasser, dann spurten Jungen und Mädchen zähneklappernd an die glühend heiße Westwand des Kuhstalles und wärmen sic dort schnell wieder auf.

Für viele der Jungen, aber auch vorwitzige Mädel, wird eine Badepause zu gegebener Zeit mit einem Gang in die nahe Köhlergrenze auf einen Wildkirschbaum oder besser: in die Kirschallee ausgefüllt.

Aber der Sommeralltag im Dorf beinhaltet für Jung und Alt mehr als nur Badefreuden und Kirschorgien.

Der Charakter des Wetterablaufs in Niederschlesien ist durch das dort wirkende Kontinentalklima gekennzeichnet. Sommerperioden von Mitte Mai bis Mitte September sind eher die Regel als eine Seltenheit.

Das sind beste Voraussetzungen für reichliche Heu-, Beeren-, Gemüse-, Getreide-, Obst-, Kartoffel- und Rübenernten. Die Dörfler kennen eigentlich nur sonnengereifte aromatische Früchte, welche überwiegend kurze Zeit vor dem Verzehr noch am Strauch hängen.

Kaum ist das Gras auf den Wiesen etwa kniehoch, und Schwärme von Bienen tragen fleißig aus dem Blütenmeer den Nektar zusammen, da beginnt die Heuernte. Die Schnitter stehen bereits, bevor die Sonne aufgeht, mit ihren scharfen Sensen im taunassen Gras und hauen die bunte Pracht ab.

Die schweißtreibende Arbeit des Hauens macht hungrig. Wenn sie nicht gerade auf den Rieselwiesen bei Breslau das Gras hauen, erhalten die Schnitter vom Bauern, dessen Gras sie mähen, ein "zweites Frühstück". In einem großen Korb werden ihnen Fett- oder Butterschnitten mit einer Kanne heißen Malzkaffees gebracht.

Natürlich herrscht nicht nur immer eitel Sonnenschein. Wachsen und Gedeihen der Feld- und Gartenfrüchte bedarf auch des Regens. Zwischen Katzengebirge und Oder, also in Striese und näherer Umgebung, sorgen überwiegend Wärmegewitter für den erforderlichen Niederschlag. Sie haben gegenüber Frontgewittern den Vorteil, daß sie nur von relativ kurzer Dauer sind und nachfolgend zu keiner Wetterverschlechterung führen.

Gelegentlich kommt es auch zu starkem Hagelschlag und/oder schwersten Wolkenbrüchen mit verheerenden Hochwassern in der Folge.

Im Sommer 1941 bricht gegen Mitternacht eines der schwersten von mir in Schlesien erlebten Gewitter über das Gebiet zwischen Oder und Katzengebirge herein. Neben meinen Eltern und mir halten sich Frau Kape aus Berlin und meine Tante aus Breslau in unserem Hause auf, als uns alle (und die meisten Bewohner des Dorfes) kräftigste Donnerschläge wecken. Wir versammeln uns unabgesprochen in der Mitte des Hauses vor der Haustür, um im Falle eines Blitzeinschlags und Brandes das Haus schnell verlassen zu können. Innerhalb weniger Stunden schwillt der Lohebach zum reißenden Fluß an und tritt über die Ufer. Gegen 4.00 Uhr ist es fast übergangslos beängstigend still. Kein Blitz, kein Donner, der Regen läßt nach und hört schnell auf; der Morgen graut. Sollen wir uns noch einmal ins Bett legen und den versäumten Schlaf nachholen? Da, ein fremder Ton: "Tuuut!.... Tuuut !"  Der Weber-Schuster bläst in sein Feuerhorn. Brennt es irgendwo? Schnell zum Spritzenhaus. Das ist aber nicht so einfach; auf den Straßen rauscht kniehoch lehmiges Wasser mit vielfältigem Treibgut.... Kein Brand im Dorf! Es geht um das im Vorjahr wiederaufgebaute Lohe-Wehr für die Hoffmann-Mühle. Die Wassermassen drohen, den neuen Damm zu durchbrechen und das Wehr wegzuspülen.

Der Wachmann der kriegsgefangenen Franzosen im Dominium verhindert eine mittlere Katastrophe durch hohen persönlichen Einsatz. Er schlingt sich ein starkes Seil um seinen Körper, verankert es an einem Wehrpfosten und läßt sich vorsichtig in den brausenden Wasservorhang des Wehres gleiten. Mit einer mitgenommenen Axt zerhaut er mühsam die oberen Bretter der Wehrschütze. Über den so abgesenkten Stauscheitel stürzen nun die Wassermassen immer schneller nach unten, Richtung Dorf. Für die Dorfjugend gibt es parallel ein einmaliges Ereignis. In allen möglichen sich dafür eignenden Behältern paddeln im lehmbraunen durchaus angenehm temperierten Wasser mutige Kinder die Nebenstraße abwärts.

Ein Gewitter kann aber auch völlig andere Erlebnisse zur Folge haben:

Leutnant G. v. Witzendorff besucht eines Sommerabends seine Nachbarn v. Prittiwitz in Mühnitz. Ein heraufziehendes Gewitter mit einem sich rapide verdunkelnden Himmel veranlaßt den Leutnant, sich schnell wieder zu verabschieden, denn er ist zu Pferde unterwegs. In Minuten wird das Tageslicht durch dicke schwarze Sturm- und Regenwolken quasi ausgelöscht. Sturmbön fauchen und toben über das Feld, Blitze zucken, Donner krachen, und urplötzlich öffnen sich auch noch die Himmelsschleusen. Der kürzeste Weg führt durch die Kapilke, ein sagenumwobenes dichtes Waldstückchen (der Reiter ohne Kopf) zwischen Mühnitz und dem Strieser Bauernwald. In der Kapilke reißt der Sturm Ästchen und Zweige von den Bäumen, die das Pferd treffen. Dieses reagiert nervös auf das tosende Wetter und die - in der Dunkelheit nicht sichtbaren - peitschenden Zweige.   G. v. W. sieht die Hand vor Augen nicht, so finster ist es. Da beleuchtet ein langer schwefelgelber Blitz für eine Sekunde den Weg. Donner kracht! Das Pferd scheut und steigt; nur mit Mühe kann sich der geübte und sichere Reiter noch im Sattel halten. Steht ein Hindernis auf dem Weg? Wieder ein Blitz! Das Pferd bäumt sich erneut auf und verweigert! Der Leutnant gleitet aus dem Sattel, hält sein Pferd kurz am Zügel. Im blauen Licht eines weiteren Blitzes sieht er .......- das ist doch nicht möglich!? Mitten auf dem Weg steht offensichtlich auf einem dunklen flachen Lattengerüst ein Sarg. Wind und Regen hören so schlagartig auf, wie sie einsetzten. Gespenstische Stille. Nur von den Bäumen fallende Tropfen und das Schnauben des Pferdes sind zu hören. Sich langsam in die Dunkelheit vortastend, stößt G. v. W. in Hüfthöhe an einen harten Gegenstand, gleichzeitig noch einmal längeres Aufleuchten eines fernen Blitzes. Tatsächlich, vor ihm ein Sarg, mitten in der Kapilke! Er faßt nach dem Sarg, um sich zu vergewissern, daß ihn die Augen während der Blitze nicht täuschten. Die rechte Hand hält das schnaubende Pferd kurz am Zügel, seine linke fühlt das nasse kühle Holz. Er spürt, daß sich der Sargdeckel bewegt, im selben Augenblick, im fahlen Schein eines langen Wetterleuchtens, untermalt von fern grollendem Donner ... ahnt er einen Arm, der von innen den Sargdeckel hochstemmt, und eine Männerstimme fragt dumpf aus dem dunklen Kasten: "Regnet's noch?"  -  Ein Geselle von Kadura sollte auf dem flachen Tischlerwagen noch am Abend einen Sarg nach Mühnitz bringen, als ihn in der Kapilke das Unwetter überraschte, und er vor dem Regen im noch leeren Sarg Schutz suchte.

                                                                             H E R B S T

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert - und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft - es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt..., na .. na ..., und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher... aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin ist der Zauber, der Bann ist gebrochen - nun geht es in einen klaren Herbst.

Herbst ist auch Erntezeit, oder d i e Erntezeit überhaupt? Die Tage werden kürzer, die Nächte kühler und länger. Es ist die Jahreszeit, auf die alles zulebt. Birnen, Äpfel, Pflaumen, späte Beeren, Mohn, Kartoffeln, Rüben, Kohl und viele andere Feldfrüchte werden jetzt geerntet. Scheunen, Mieten und Keller werden mit Vorräten für den Winter, das Frühjahr und den Frühsommer gefüllt. Große Sorgfalt wird auf die sachgerechte Lagerung verwendet, um möglichst wenig Lagerverluste zu erleiden und den Früchten ihren Geschmack und Nährwert zu erhalten.

Ab Anfang September läßt die Badelust schnell nach, Drachen steigen immer seltener in den jetzt ruhiger und gleichmäßiger aus West-Nordwest wehenden Wind. An sonnigen, warmen Tagen segeln hunderte glitzernder Spinnenfäden durch die Luft, auf denen sich meist junge Spinnen mit dem Wind forttragen lassen; Altweibersommer. Der Volksglaube hält die Spinnfäden des Altweibersommers für ein Werk von Elfen und Zwergen.

Die schulpflichtigen Kinder genießen die Herbstferien, "Kartoffel-Ferien" genannt. Die Mehrzahl der Kinder wird tatsächlich zum "Karoffelklauben" eingespannt. Wenn die Tage trocken und mild sind, ist die relativ schwere Arbeit gerade noch erträglich, aber regnet es und pfeift ein kalter Herbstwind über die Felder, dann werden die erdverschmierten Finger steif und die Kälte sticht, daß manche stille Träne auf den Acker fällt. Überwiegend sind die Tage der Kartoffelernte aber noch angenehm und gehen als besonders schön in die Erinnerung ein. Wenn am Spätnachmittag das tagsüber getrocknete Kartoffelkraut auf Haufen getragen und abgebrannt wird, lassen dicke Rauchschwaden die untergehende Abendsonne hinter der Schebitz-Sponsberger Grenze glutrot erscheinen. Der Rauch wird keinesfalls als unangenehm empfunden, obwohl er denen, die durch ihn hindurch müssen, die Tränen in die Augen treibt, und ihre Kleidung noch am nächsten Tag den "würzigen" Geruch trägt. Keiner hat eigentlich Hunger, aber alle delektieren sich an dem heißen, gelbweißen, mehligen Kartoffelfleisch, das sie aus den schwarzen, harten Krusten der in den Krautfeuern gebratenen Kartoffeln schnell noch essen, bevor die vollbeladenen Wagen knarrend und rumpelnd in der hereinbrechenden Dunkelheit den Höfen entgegenrollen.

Der Herbst ist in unserem Landstrich als meteorologische Jahreszeit ähnlich kurz wie der Frühling. Einige meinen zwar, er beginne bereits, wenn der Wind über den Stoppel weht, aber schon im Juli haben wir erste Stoppelfelder. Richtiger erscheint mir deshalb, den Herbstbeginn in die Tage zu legen, da die Hackfrucht- und Obsternte beginnen. Und wenn sonnige Tage und kühle Nächte die lebhafte und prächtige Herbstfärbung der Blätter von Bäumen und Sträuchern bewirken, sind wir mittendrin. Sobald der Laubfall einsetzt und die Zuckerrüben geerntet sind, neigt der Herbst sich unweigerlich seinem Ende zu.

Bei aller Farbenpracht und Erntefülle, besonders an schönen Tagen, mischt sich doch auch ein Stück Wehmut und Tristesse in diese Zeit.

In der Landwirtschaft muß noch einmal Schwerarbeit geleistet werden.

Die Zuckerrübenernte erfordert viel physische Kraft. Die Zuckerrüben kommen nach Rosenthal in die Zuckerfabrik. In meiner Erinnerung findet die Rübenernte nur in trübem, naßkalten Wetter statt. An den Schuhen klebt der zähe und fette Rübenboden, die Bauern und ihre Arbeiter müssen sich beim Aufladen der Rüben und des schweren Blattes ebenso schinden wie die Pferde, wenn sie - nicht selten vierspännig - die schweren Wagen von den aufgeweichten Feldern ziehen.

Auf den Dominium-Äckern haben Mensch und Tier es erheblich leichter. Die Feldbahn rollt über die leicht verlegbaren Gleise, wie sonst unter günstigeren Wetterbedingungen auch. Unangenehm wird es für die Arbeiter allerdings dann, wenn einsetzender Frost die Gleise im Boden "festbackt".

Auch bei unfreundlichem Herbstwetter stromern kleine Gruppen unternehmungslustiger Kinder durch die Feldmark. Sie folgen wohl einem Urtrieb. Tatsächlich muß keiner Hunger leiden, trotzdem werden eiskalte Wasserrüben aus dem Boden gezogen, grob von der Ackererde gereinigt und genüßlich verspeist. Schlehenhecken an Wegrändern oder im Bewuchs der Grenzen erfreuen nach dem ersten Frost ebenfalls die alles Genießbare probierenden Jungen und Mädchen.

Gelegentlich entdecken sie zwischen den Zuckerrüben einzelne oder eine ganze Zeile nicht geernteter "Moh-Heitel" (Mohnköpfe), die noch nicht von den Feldsperlingen angehackt und geplündert sind. Da verstummt bald jedes Geplapper, wenn in den vollen Mündern langsam der Mohn gemahlen wird. Das ist schon ein kleiner Vorgeschmack auf die Winterzeit, wenn es Mohnklöße und Mohnkuchen geben wird.

Auf das nahende Ende des Herbstes weist eine ganz besondere "Ernte" hin, die Treibjagden.

In Schlesien bleibt die "niedere Jagd" gewöhnlich den Rittergütern vorbehalten. In der Gemarkung Striese ist in den 1930er Jahren und bis Kriegsende Herr Kelling aus Breslau an der Jagd beteiligt. Dominiumförster Heinrich Teige und Herr Kelling laden für die spätherbstlichen Treibjagden weitere Jäger aus dem Freundeskreis der Gutsherrschaft und aus den Nachbarorten zu ihrer Verstärkung ein. Herr Teige instruiert insbesondere die Neulinge unter den Treibern über ihre Aufgaben, dann geht es in leichtem Nebel bei schwachem Nieselregen hinaus in die Feldmark.

                                              W I N T E R

Im wahrsten Sinne des Wortes "merkwürdig" (zum Merken würdig) ist der Winteranfang; ein sich lange hinschleppender Vorgang, im Gegensatz zum Winterende, das sich auf zwei bis maximal drei Wochen beschränkt.

Während der Zuckerrübenernte, von Oktober bis Anfang/Mitte November, werden die Tage schnell merklich kürzer. Selbst wenn am Nachmittag noch einige Sonnenstrahlen den Nebel weggedrückt haben, und wir draußen spätherbstliche Wärme spüren, wird es nach Sonnenuntergang ganz schnell empfindlich kalt. In einem feuchten und regnerischen Herbst zieht sich die Kartoffelernte mitunter bis Anfang November hin. Da erfahrungsgemäß ein Unglück selten allein kommt, setzt in solchen Jahren auch der Frost sehr früh ein. Als der Frost in einem der Kriegswinter schon ab Oktober über längere Zeit anhält, müssen wir Schulkinder für einige Tage zum Kartoffelnlesen antreten. Die Kartoffeln des Dominiums stecken Anfang November noch in der bereits gefrorenen Erde. Durch und durch gefroren klitschern sie wie Steine in den Körben. Vom Frost erheblich geschädigt, schmecken sie süß und werden deshalb mit einem "Straßen"-Bulldog nach Auras in die Kartoffelflockenfabrik gebracht und verarbeitet.

Den Zuckerrüben schadet der Frost nicht. In der Zuckerfabrik Rosenthal wird noch bis zum Jahresende die süße Hackfrucht angenommen.

Gelegentlich bin ich auch in der unwirtlichen Spätherbstzeit am Nachmittag draußen auf dem Feld und leiste dem Schmidt Adolf Gesellschaft. Bis wir nichts mehr sehen, wird der Acker bearbeitet, dann die Pferde vor den schon vorher beladenen Wagen gespannt und nach Hause gefahren. Meistens sind die Wagen mit Futterrüben, Rübenblatt oder ähnlichem beladen. Auf den höchsten Punkt der Ladung legt Adolf einen Sack und darauf eine Pferdedecke. Nun kann ich mich da hineinkuscheln. Nur der Kopf guckt noch heraus.

Die Pferde finden ihren Weg allein. Adolf zeigt und erklärt mir einzelne Sternbilder, während ich in der leicht schwankenden Ladung auf dem Rücken liegend in den glitzernden Himmel schaue.

Claus Schlanzke hat am 3.Dezember Geburtstag. Wenn am Nachmittag sein Geburtstag gefeiert wird, toben Geschwister und Gäste des Geburtstagskindes vor "Kakao und Kuchen" draußen auf der Spielwiese herum. Fast alljährlich reicht der bis zu diesem Tage gefallene pappige Schnee aus, um auf der Spielwiese große Schneekullen zusammenzupacken und daraus Schneemänner oder Bunker zu bauen. Die "Bunker" sind zusammengeschobene große Schneekullen (Kullen = Rollen, z.B. Nudelkulle = Nudelrolle oder Teigrolle), in die wir mit unseren Händen Gänge und Löcher graben, um uns - zusammengerollt wie eine Katze - darin zu verbergen.

Nach Mitte Dezember setzt gewöhnlich eine Tauperiode ein. "Auf Eis folgt Scheiß" sagen dann unsere Altvordern. Es gibt Dreckwetter mit täglich durchnäßten Schuhen, die abends mit Zeitungspapier vollgestopft und zum Trocknen vor den warmen Ofen gestellt werden.

Bleibt vom ersten Dauerfrost auf den Teichen und den Wasserlöchern an den Sandgruben und anderswo noch eine einigermaßen tragende Eisschicht, dann spielen wir mit den Schlitten "Wabbel-Eis-fahren". Auf festem Boden wird ordentlich Anlauf genommen, am Rand des Eises werfen wir uns auf den Schlitten und preschen nun möglichst bis zum andern Ufer durch. Das ist ein "Angst-Vergnügen". Die Fahrt über die reichlich unstabile Eisdecke bleibt immer ein Vabanquespiel. Je langsamer der Schlitten gleitet, um so tiefer werden die Wellen in der Eisschicht. Es knistert und knackt rundherum. Die Wellen im Eis haben bei jeder "Bergauf-Fahrt" eine bremsende Wirkung, bis hin zum unerwünschten Stillstand des Schlittens. Folge des Stehenbleibens ist unweigerlich, daß der Schlitten samt Fahrer einbricht. Wegen der geringen Tiefe des Wassers unter der befahrenen Eisdecke tritt jedoch für den Fahrer keine lebensbedrohliche Situation ein, ein unerwünschtes Bad, mindestens bis zu den Hüften, sorgt aber immer für einen kräftigen Schnupfen.

Anfang Januar 1945 breche ich einmal im Schilfbereich des Gärtnerteiches ein. Ich stehe noch nicht einmal bis zu den Hüften im Wasser, komme relativ flink wieder auf festes Eis und versuche schnellstens nach Hause zu rennen. Wir haben aber eine Tagestemperatur von ca. -18 Grad Celsius. Schon am Spritzenhaus werden meine Hosenbeine immer steifer; ich kann nur noch wie auf Oberschenkelprothesen vorwärts staken. Zu Hause legt meine Mutter mich auf den Fußboden, um die "Frosthosen" schnellstens von meinem Körper zu bekommen. Ich werde trocken gerieben und sofort ins Bett gesteckt; die brettsteifen Hosen stellt Mutter in eine Wanne, damit sie in der Küche auftauen können.

Mitten im berüchtigten "Gefrierfleisch-Winter" (1941/42) kommt der Bartel Erwin schnell mal zu uns gerannt, um Post abzuholen. In den zwei bis drei Minuten von seinem zu unserem Haus hat er sich schon die oberen Ränder seiner Ohren erfroren. Es herrscht an diesem Tag trockene Kälte um -30 Grad. Erfrierungen gibt es daher meistens dann, wenn wir die trockene Kälte nicht empfinden. Ohren, Nase, Finger und Zehen sind die für Erfrierungen prädestinierten Extremitäten.

Wie in den anderen Jahreszeiten gibt es auch im Winter immer wieder kurze, aber fast alle Kinder mitreißende Modewellen. Mehrere Winter hintereinander bricht für 2 bis 3 Wochen das Schlittschuhfieber aus. Zur Schule und auch sonst bewegen die Jungen sich dann außerhalb der Häuser fast nur noch auf Schlittschuhen. Der hartgefrorene Schnee bildet einen gut befahrbaren Grund. Sie laufen nicht Schlittschuh, sie "fahren" auf Fußwegen und Straßen gleichermaßen. In den Häusern ziehen sie die Schuhe mit den angeschraubten Schlittschuhen bereits an der Haustür oder im Flur aus und gehen in Hausschuhen weiter. In der Schule werden die Schuhe anbehalten, an ihnen bleiben die angeschraubten Schlittschuhe. Das verursacht für Frau Dörner, welche die Schule reinigt, argen Verdruß, weil es doch an fast jedem Platz eine große Lusche (sprich: "luhsche" mit gedehntem u und kurzem e, und das sch wie das g in Garage) von dem abgetauten Schnee gibt. Nicht nur in der Schule, auch bei Kaufmann Rahner oder beim Hoffmann-Bäcker und Fleischer Wolter hinterlassen die Jungen ihre Luschen, wenn sie etwas einkaufen. Erklärend und zur Entschuldigung der Kinder muß aber gesagt werden, daß außerhalb warmer Räume die Kurbel selbst dann nicht auf den total vereisten Vierkant der Schlittschuhe paßt, wenn sie in der Hosentasche angewärmt wird, um das Eis zu tauen.

Die Bewegung auf Schlittschuhen geht den Kindern in Fleisch und Blut über. Die stählernen Kufen unter ihren Füßen lassen sie gleichermaßen auf festgetretenem Schnee wie auf den blanken, geräumten Eisflächen der Teiche dahinflitzen. Auf ihren Schlittschuhen erreichen sie auf dem Eis vorwärts- oder rückwärtsfahrend Geschwindigkeiten, wie sonst nur im Sommer auf ihren Fahrrädern.

Auf den Bachläufen und den zugefrorenen Gräben werden Abenteuer-Fahrten durchgeführt. Wie das, bei so hohem Schnee? Nun, allabendlich steigt das Wasser der Bäche und Gräben über die vorhandene Eisschicht und durchsetzt den inzwischen gefallenen Schnee. Daraus bildet der Nachtfrost innerhalb weniger Stunden eine neue glatte und feste Fläche.

Auf den Teichen werden natürlich nicht nur Achten vorwärts oder Sterne rückwärts gelaufen, auch Eishockey spielen die Kinder mit unendlicher Hingabe. Als Puck dient eine ausrangierte Billardkugel. Die Schläger sind in der Mehrzahl aus starken entsprechend gewachsenen Haselnußstöcken. Mit ihnen kann eine ungeahnte Schlagkraft entwickelt werden. Der Garsche Hans knallt im Januar 1945, kurz vor der Flucht, dem Schlanzke Jorgel den Schläger versehentlich so vor den Kopf, daß dieser ein Löchlein in der Stirn hat. Gleich nach dem häßlichen "Pflapp!" des Schlages sind alle auf dem Eis befindlichen Kinder mucksmäuschenstill. Jorgel liegt da wie tot und rührt sich nicht. - Zufällig kommt Otto Rahner sen., unser Obersanitäter des Roten Kreuzes, vorbei. Schnell herangerufen ordnet er an:"Der Junge muß sofort zum Arzt." Auf einem Pferdeschlitten fährt Onkel Oskar Jänsch den in Decken gehüllten Jorgel zum Arzt nach Schebitz, der ihm die Stirnschwarte zusammennäht, wie das ein Landarzt eben so macht.

 

Zum richtigen Winter gehört nicht nur Schnee, sondern auch Eis in jeglicher Form. Der Lohbach und die Gräben haben je nach Wasserstand entsprechende Eisabbrüche an den Ufern. Gelegentlich schieben sich auch Eisschollen übereinander, die aber in ihrer Dicke keinesfalls an die Schollen heranreichten, die beim "Eismachen" entstehen.

Für die Kühlräume des Fleischers Wolter und des Schlosses schneiden alljährlich mit Schrotsägen aus genügend dicken Eisdecken der Teiche einige Dominiumarbeiter Eisstangen (ca. 25 mal 25 mal 120 cm). Dieses Stangeneis wird anschließend mit Pferdewagen zu den dafür hergerichteten Eisgruben gefahren, zu mächtigen Haufen aufgeschichtet, mit Planen abgedeckt und gegen die nach dem Winter kommende Wärme mit einer meterdicken Sägespäneschicht geschützt. So können das ganze Jahr hindurch die Kühlräume etwa wöchentlich mit frischen Eisstangen bestückt und wärmeempfindliche Fleisch- und Wurstwaren sowie andere Lebensmittel vor dem Verderben geschützt werden.

Während des Winters werden auch die mehr oder weniger schweren und fetten Hausschweine geschlachtet. Bauhandwerker sind in den Wintermonaten oft als Hausschlachter tätig.

Wochenlang gibt es dann bei Zaporas (wegen der Post) fast täglich frische Wurstbrühe, Wellwürste und Wellfleisch, bis uns das Zeug zum Hals heraushängt.

 

Anfang März, wenn die Tage schon merklich länger sind, setzt das Tauwetter ein. Die Schneeschmelze bringt oft eine Reihe aufregender Tage. Bei klarem, sonnigen Hochdruckwetter schmilzt der Schnee nur tagsüber während der Sonneneinstrahlung, und abends setzt noch regelmäßig Frost ein, der den Tauvorgang unterbricht und das Tauwasser ruhig abfließen läßt. Haben wir aber ein Tief mit mildem Tauwind und warmem Regen, dann bekommen wir garantiert gefährliches Hochwasser. Innerhalb von 24 bis 36 Stunden  Tauwetter schwillt der Lohebach so stark an, daß er seine braune, mit Eisschollen bestückte Brühe, kaum noch unter den Brücken hindurchwälzen kann. Er verwandelt sich in wenigen Stunden zum reißenden Fluß. Bleibt es dann weiterhin mild, überspült das Wasser bald die Brücken und rast auf der Nebenstraße entlang. Tieferliegende Häuser wie die von Peschel oder Fitze sind schon längst überschwemmt, wenn das Wasser sich auch in unser Haus Einlaß verschafft.

Ein besonders starkes Hochwasser während der Schneeschmelze nach dem ersten Kriegswinter reißt das Mühlgrabenwehr am Dorfeingang weg. Die danach aus dem Staubereich stürzenden Wassermassen erzeugen ca. 80 - 100 m oberhalb einen so kräftigen Sog, daß die Uferböschungen fortgeschwemmt und die massive Ellguth-Weg-Brücke (für die Dominiumfuhrwerke und die Feldbahn) unterspült und zum Einsturz gebracht werden.

Damit die Frühjahrsarbeiten möglichst ohne gravierende Störungen durchgeführt werden können, errichten die Dominium-Handwerker für das Feldbahngleis eine Behelfsbrücke nach Art der "Rübenrampe"; die Zugpferde traben unterhalb der Behelfsbrücke durch eine entsprechende Furt.

Das Mühlgraben-Wehr wird wenige Wochen nach der Katastrophe wieder aufgebaut; der Brückenwiederaufbau erfolgt erst ein Jahr später. Baumaterial gehört zu den kriegswichtigen Materialien.

"Schöne" Winter mit klirrendem Frost und hohem Schnee erfreuen wohl überwiegend die Kinder, denn die Erwachsenen sehen seit dem "schlimmsten Hochwasser seit Menschengedenken" jedem folgenden Winterende mit Sorge entgegen.

Die weiße Pracht, die uns wochenlang die Landschaft verzauberte, das Wintermärchen, ist vorbei. Die Freude über die sachte und lautlos vom Himmel schwebenden Kristallsterne, den dichten Flockentanz, das blendende Glitzern der bis zum Horizont reichenden Schneeflächen hat nachgelassen. Sie ist der Sehnsucht nach frischem Grün und Wärme gewichen.

Alle wünschen den Frühling herbei.

 

 

 

 

 

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